Awareness als herrschaftskritisches Handeln

Im Folgenden geht es um Hintergrundwissen, das wir für die Haltung und Praxis der Awareness-Arbeit wichtig finden. Die theoretische Grundlage dafür bilden die Bücher „Antisexistische Awareness“ von Ann Wiesental und „Down Girl – Die Logik der Misogynie“ von Kate Manne. Es geht uns bei Gewalt und Diskriminierung nicht um eine wissenschaftliche Definition, sondern um eine Definition aus Sicht der Betroffenen. Diesen Perspektivwechsel verstehen wir als Herrschaftskritik, wie im Folgenden erklärt werden soll: Warum gibt es Diskriminierung und was ist ihre Funktion?

a-team freiburg

Im Folgenden geht es um Hintergrundwissen, das wir für die Haltung und Praxis der Awareness-Arbeit wichtig finden. Die theoretische Grundlage dafür bilden die Bücher „Antisexistische Awareness“ von Ann Wiesental und „Down Girl – Die Logik der Misogynie“ von Kate Manne.

Es geht uns bei Gewalt und Diskriminierung nicht um eine wissenschaftliche Definition, sondern um eine Definition aus Sicht der Betroffenen. Diesen Perspektivwechsel verstehen wir als Herrschaftskritik, wie im Folgenden erklärt werden soll:

Warum gibt es Diskriminierung und was ist ihre Funktion?

Wir leben in einer Gesellschaft mit bestimmten Normen. Diese Normen werden in Gegensätzen zueinander konstruiert. Diese Gegensatzpaare stehen in einem

hierarchischen Verhältnis zueinander. Dabei wird immer eine Norm ihrer Abweichung bzw. dem „Anderen“ gegenübergestellt. So wird etwa weiße Hautfarbe als Norm gesehen und schwarze als abweichend. Beim Geschlechterverhältnis, das heteronormativ geprägt ist, ist es das Gegensatzpaar von Mann und Frau. Männlichkeit wird nicht immer offensichtlich (wie z.B. in der Sprache), sondern häufig implizit als Norm gesetzt. Einer eindeutigen Zuordenbarkeit der Geschlechtsidentität als Mann/Frau (cis) stehen nichtbinäre, queere oder Transidentitäten gegenüber. Bei Sexualität/Begehren gilt Heterosexualität als Norm, Homosexualität als Abweichung. Auch auf vielen anderen Ebenen findet diese Einteilung in Norm und Abweichung statt. Menschen, die innerhalb dieser Norm als abweichend begriffen werden, sind i.d.R. von Diskriminierung betroffen. Menschen werden anhand bestimmter Merkmale, Eigenschaften oder Verhaltensweisen zugeschrieben und sie werden in Gruppen eingeteilt. Werden sie als Gruppe anhand „abweichender“ Merkmale eingeteilt, sind sie deshalb überdurchschnittlich häufig von Diskriminierung und Gewalt betroffen.

Die hierarchische Strukturierung dieser Gesellschaft bedingt ihre Funktionsweise: Eine soziale Gruppe beutet die andere strukturell aus, z.B. konnten und können Männer auf die unbezahlte Hausarbeit von Frauen zurückgreifen, die ihnen den Rücken freihielten und nach wie vor freihalten, um bezahlter Arbeit nachzugehen. Andere Ausbeutungsverhältnisse sind z.B. die Klasse der Arbeiter*innen vs. die der Fabrikbesitzer*innen, die Kolonialmächte vs. die Kolonisierten, die Einheimischen vs. die Gastarbeiter*innen usw. Soziale Gruppen entstehen, indem Menschentypen geschaffen werden, die angeblich biologische, „von Natur aus“ oder auch „kulturell bedingte“ Eigenschaften und Verhaltensweisen mitbringen. Diese Naturalisierung oder Kulturalisierung trägt dazu bei, die Verhältnisse zwischen den Klassen als Naturgesetze und somit als natürlich gegeben zu betrachten. Dies äußert sich etwa in Annahmen, dass Frauen generell schwächer als Männer seien oder, dass männliche Migranten aus dem Globalen Süden sich aufgrund ihrer Kultur abwertend gegenüber Frauen verhalten würden.

Diese Annahmen und Glaubenssätze stabilisieren die Herrschaftsverhältnisse. Das bedeutet: Die Einteilung von Menschen in Gruppen erfüllt eine soziale Funktion. Sexismus z.B. hat die Funktion, Frauen innerhalb der sozialen Ordnung einen bestimmten Platz zuzuweisen. Dieser ihr zugewiesene Platz erscheint als natürlich, da er angeblich bestimmten Eigenschaften angemessen ist, die „alle“ Frauen mitbringen. Homophobie z.B. hat die Funktion, das Verhalten Homosexueller als „unnatürlich“ erscheinen zu lassen, damit die Stellung der Geschlechter innerhalb der sozialen Ordnung nicht geschwächt wird. Homophobie dient somit ebenfalls der Verfestigung der gegebenen Herrschaftsverhältnisse.

Diskriminierungsformen über ihre soziale Funktion her zu begreifen, heißt, dass wir Rassismus, Sexismus, Homophobie usw. nicht auf den psychologischen Charakter der Person zurückführen. Deshalb betrachten wir beispielsweise einen sexuellen Übergriff nicht als „Ausrutscher“ oder als „psychopathisch“, denn das würde bedeuten ihn als Einzelfall zu betrachten. Aber Gewalt, ob sexuell, rassistisch, homophob usw. ist nicht das Problem eines Einzelnen – sie ist strukturell verankert und gesellschaftlich bedingt.

Was macht Gewalt?

Wir suchen die Motive für diskriminierendes Verhalten nicht innerhalb der Person, versuchen also nicht die Täter-Person zu verstehen, indem wir uns erklären, welche Gefühle hinter ihrem homophoben Verhalten liegen oder welcher psychologische Typ sie ist. Für unseren Umgang mit Betroffenen und unsere Haltung ist es wichtig, die gesellschaftlichen Strukturen mitzudenken, um individuelle Gewalt aus der Perspektive der Betroffenen zu verstehen.

Diskriminierung, das sind die strukturellen Verhältnisse, die das Handeln und die Chancen bestimmter sozialer Gruppen einschränken. Und diese Einschränkung ist gewaltsam und wirkt sich im individuellen Fall gewaltvoll aus. Deshalb ist in Anlehnung an Manne Diskriminierung als das zu begreifen, was sie den Betroffenen antut.
Wie sich Diskriminierung auf Betroffene auswirkt, muss nicht als Gewalt, in Form von Schlägen oder verbalen Anfeindungen, sexuellen Übergriffen oder Vergewaltigung sichtbar sein. Sie wirkt häufig subtiler, auf einer psychischen Ebene zwischen Täter- Person und Betroffenen, aber auch innerhalb der Psyche der Betroffenen. Diskriminierung und Gewalt werden internalisiert. Allein die Angst vor zwischenmenschlicher Gewalt ist Diskriminierung. Sie wird nicht nur sichtbar in direkter Gewalt, sie wirkt „häufig um das Verhalten anderer vorbeugend zu beeinflussen oder zu kontrollieren. Sie nimmt ein Mädchen oder eine Frau, die einer bestimmten […] gesellschaftlichen Kategorie angehört, und droht ihr negative Konsequenzen an, wenn sie die entsprechenden Normen oder Erwartungen als Mitglied dieser genderspezifischen Personengruppe verletzt oder infrage stellt.“ (Manne, K. (2019). Down Girl – Die Logik der Misogynie. Berlin: Suhrkamp, S.58). Wir definieren Diskriminierung also nicht theoretisch, sondern aus der Praxis: Diskriminierung ist das, was sie bewirkt, d.h. Diskriminierung ist das, was von Betroffenen als Gewalt erlebt wird – und das kann von Betroffenen nur selbst definiert werden.

Warum braucht es Awareness ?

Wenn sexualisierte Gewalt ausgeübt wurde, wird der Fokus in unserer Gesellschaft automatisch auf die Tat gelenkt: Was genau ist passiert? Wie schlimm oder brutal war die Tat? Wer hat Schuld? Wie soll gestraft werden? Das Bedürfnis der betroffenen Person wird dabei meist völlig außer Acht gelassen. Anstatt Fragen zu stellen, was die Person nun braucht und wie die Gesellschaft sie dabei unterstützen kann, geht es dann ausschließlich um die Tat.

Denn unser Strafsystem lehrt uns: für jedes Unrecht gibt es die gerechte Strafe. Deshalb muss zunächst das Unrecht definiert werden. Es muss entschieden werden, was genau passiert ist; der Schweregrad muss eingeschätzt werden. Doch nur die Person, die den Übergriff erlebt hat, kann definieren, was geschehen ist und nur sie weiß somit, was „die Wahrheit“ ist. Diese Einschätzung ist nicht objektiv, jedoch für die betroffene Person unbedingt nötig, um einen Heilungsprozess anstoßen zu können. Bei sexualisierter Gewalt verliert die betroffene Person durch einen Kontrollverlust ihre Selbstbestimmung. Diese Selbstbestimmung kann nicht darüber wiedererlangt werden, dass Richter*innen über die Art und den Schweregrad der begangenen Tat entscheiden und daraus Konsequenzen für die angeklagte Person ableiten. Die Integrität wird auch dadurch nicht wiederhergestellt, dass Freund*innen, Umstehende, Familienangehörige, Türsteher*innen etc. urteilen, was mit der Täter-Person passieren soll.

Im Gegenteil: hier werden erneut die Grenzen der betroffenen Person überschritten, es wird wieder über ihren Kopf hinweg entschieden und andere Personen schreiben vor, was die nächsten Schritte sein sollen. Der Kontrollverlust geht dann sogar noch weiter; die betroffene Person wird aufs Neue objektiviert. Sie erlebt, dass ihr eigenes Empfinden unwichtig ist, was sie will ist zweitrangig – stattdessen liegt der Fokus auf der gewaltausübenden Person.

Mit unserem Awareness-Konzept wollen wir den Fokus auf die betroffene Person legen und nicht auf die Täter-Person. Nur die betroffene Person selbst kann entscheiden, wie sie die verlorene Kontrolle wieder zurückgewinnen kann. Awareness handelt daher immer parteilich und stellt das Erlebte der betroffenen Person nicht in Frage.

Im Folgenden geht es um Hintergrundwissen, das wir für die Haltung und Praxis der Awareness-Arbeit wichtig finden. Die theoretische Grundlage dafür bilden die Bücher „Antisexistische Awareness“ von Ann Wiesental und „Down Girl – Die Logik der Misogynie“ von Kate Manne. Es geht uns bei Gewalt und Diskriminierung nicht um eine wissenschaftliche Definition, sondern um eine Definition aus Sicht der Betroffenen. Diesen Perspektivwechsel verstehen wir als Herrschaftskritik, wie im Folgenden erklärt werden soll: Warum gibt es Diskriminierung und was ist ihre Funktion?